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     Патрик Зюскинд.  Парфюмер. На немецком языке. 1998
     OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
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     Im achtzehnten Jahrhundert lebte in  Frankreich ein Mann,  der  zu  den
genialsten   und   abscheulichsten   Gestalten  dieser   an   genialen   und
abscheulichen Gestalten nicht armen  Epoche gehurte.  Seine  Geschichte soll
hier  erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn  sein
Name im  Gegensatz  zu  den  Namen  anderer genialer Scheusale,  wie etwa de
Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten
ist,  so   sicher   nicht  deshalb,  weil   Grenouille  diesen   beruhmteren
Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an
Gottlosigkeit  nachgestanden hutte, sondern  weil  sich sein Genie und  sein
einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine
Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche.

     Zu der  Zeit, von der wir  reden,  herrschte in den Studten ein fur uns
moderne Menschen kaum  vorstellbarer Gestank.  Es stanken die  Straßen
nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser
nach  fauligem Holz und nach  Rattendreck,  die Kuchen nach verdorbenem Kohl
und  Hammelfett; die ungelufteten Stuben  stanken  nach muffigem Staub,  die
Schlafzimmer  nach fettigen Laken,  nach feuchten Federbetten  und  nach dem
stechend  sußen  Duft  der  Nachttupfe.  Aus  den  Kaminen  stank  der
Schwefel,  aus  den  Gerbereien   stanken  die   utzenden  Laugen,  aus  den
Schlachthufen  stank  das   geronnene  Blut.   Die  Menschen   stanken  nach
Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach
verrotteten Zuhnen,  aus  ihren  Mugen nach Zwiebelsaft und  an den Kurpern,
wenn sie nicht mehr  ganz jung waren,  nach altem Kuse und nach saurer Milch
und  nach  Geschwulstkrankheiten.  Es  stanken  die  Flusse, es stanken  die
Plutze, es  stanken die  Kirchen,  es  stank  unter den Brucken und  in  den
Palusten. Der  Bauer stank wie der Priester,  der  Handwerksgeselle  wie die
Meistersfrau, es stank der gesamte  Adel, ja  sogar der Kunig stank, wie ein
Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.
Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert
noch keine Grenze  gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine
aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder
verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure.

     Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war
die grußte Stadt  Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es
einen  Ort,  an  dem  der  Gestank  ganz besonders  infernalisch  herrschte,
zwischen  der  Rue  aux  Fers und der  Rue de  la  Ferronnerie, numlich  den
Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die  Toten
des Krankenhauses Hotel-Dieu  und  der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht,
achthundert Jahre lang  Tag fur Tag  die Kadaver zu Dutzenden  herbeigekarrt
und  in lange Gruben geschuttet, achthundert  Jahre lang in den  Gruften und
Beinhuusern Knuchelchen  auf  Knuchelchen  geschichtet. Und erst sputer,  am
Vorabend  der Franzusischen Revolution,  nachdem  einige  der  Leichengruben
gefuhrlich eingesturzt waren  und  der Gestank des uberquellenden  Friedhofs
die  Anwohner  nicht  mehr zu  bloßen  Protesten,  sondern  zu  wahren
Aufstunden trieb, wurde er  endlich geschlossen und aufgelassen,  wurden die
Millionen Knochen und Schudel in  die Katakomben von Montmartre geschaufelt,
und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien.

     Hier nun, am allerstinkendsten  Ort des gesamten Kunigreichs, wurde  am
17.  Juli   1738   Jean-Baptiste  Grenouille  geboren.  Es  war  einer   der
heißesten  Tage des  Jahres. Die  Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof
und quetschte den nach einer  Mischung aus fauligen Melonen  und verbranntem
Hurn  riechenden Verwesungsbrodem in  die benachbarten  Gassen.  Grenouilles
Mutter  stand, als die  Wehen  einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux
Fers  und schuppte Weißlinge,  die  sie  zuvor ausgenommen  hatte. Die
Fische, angeblich  erst am Morgen aus der Seine gezogen,  stanken bereits so
sehr, dass ihr  Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber
nahm weder den Fisch- noch  den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr
Leib,  und  der   Schmerz   tutete  alle  Empfunglichkeit  fur  uußere
Sinneseindrucke. Sie  wollte nur  noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte
die  eklige Geburt  so  rasch als muglich hinter sich  bringen. Es war  ihre
funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert,  und
alle  waren  Totgeburten  oder  Halbtotgeburten  gewesen,  denn  das blutige
Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse,
das  da schon lag, und lebte auch  nicht viel  mehr,  und abends wurde alles
mitsammen  weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder  hinunter zum
Fluss.  So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter,  die noch eine
junge Frau war, gerade  Mitte  zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch
fast  alle Zuhne  im  Munde  hatte  und auf dem  Kopf  noch  etwas  Haar und
außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine
ernsthafte Krankheit;  die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder
zehn  Jahre lang,  und  vielleicht  sogar  einmal zu  heiraten und wirkliche
Kinder zu  bekommen  als ehrenwerte Frau  eines verwitweten Handwerkers oder
so...  Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure.  Und  als
die Presswehen einsetzten,  hockte  sie sich  unter ihren  Schlachttisch und
gebar dort,  wie schon vier  Mal zuvor  und nabelte mit dem Fischmesser  das
neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze  und  des  Gestanks, den sie
als  solchen   nicht  wahrnahm,   sondern   nur  als  etwas  Unertrugliches,
Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges  Zimmer,  in dem zu
viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite,  fiel unter
dem Tisch hervor mitten  auf die Straße  und  blieb  dort  liegen, das
Messer in der Hand.

     Geschrei, Gerenne,  im  Kreis  steht die glotzende  Menge, man holt die
Polizei.  Immer noch  liegt  dieFrau mit  dem  Messer in der  Hand  auf  der
Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
     Was ihr geschehen sei?
     "Nichts."
     Was sie mit dem Messer tue?
     "Nichts."
     Woher das Blut an ihren Rucken komme?
     "Von den Fischen."
     Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.

     Da  fungt, wider  Erwarten,  die  Geburt  unter  dem  Schlachttisch  zu
schreien an. Man schaut nach,  entdeckt unter einem  Schwurm von Fliegen und
zwischen Gekruse und  abgeschlagenen  Fischkupfen das Neugeborene,  zerrt es
heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben,  die Mutter festgenommen.
Und  weil sie gestundig  ist  und  ohne weiteres zugibt, dass  sie  das Ding
bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon  mit vier
anderen  getan  habe,  macht  man  ihr den  Prozess,  verurteilt  sie  wegen
mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf  der Place
de Greve den Kopf ab.

     Das  Kind hatte zu  diesem Zeitpunkt  bereits  das dritte  Mal die Amme
gewechselt.  Keine  wollte es lunger als ein  paar  Tage behalten. Es sei zu
gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die
Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da  rentables Stillen
bei einem einzigen Suugling unmuglich  sei. Der  zustundige Polizeioffizier,
ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind  schon
zur  Sammelstelle  fur  Findlinge  und  Waisen  in  der   uußeren  Rue
Saint-Antoine  bringen  lassen,  von wo  aus  tuglich  Kindertransporte  ins
staatliche  Großfindelheim  von  Rouen  abgingen.  Da  nun aber  diese
Transporte  von  Lasttrugern  vermittels Bastkiepen durchgefuhrt  wurden, in
welche  man  aus  Rationalitutsgrunden  bis zu vier  Suuglinge  gleichzeitig
steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war;
da  aus  diesem  Grund  die  Kiepentruger  angehalten  waren,  nur  getaufte
Suuglinge  zu befurdern und nur solche, die  mit einem ordnungsgemußen
Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste;
da  das  Kind Grenouille aber weder getauft  war  noch uberhaupt einen Namen
besaß,  den  man  ordnungsgemuß  in  den  Transportschein  hutte
eintragen  kunnen;  da  es  ferner  seitens  der Polizei nicht gut  angungig
gewesen  wure,  ein  Kind   anonymiter  vor  den  Pforten  der  Sammelstelle
auszusetzen,  was  allein  die Erfullung der  ubrigen  Formalituten erubrigt
haben wurde...  -  aus einer Reihe  von Schwierigkeiten  burokratischer  und
verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds
zu  ergeben  schienen, und  weil  im  ubrigen  die  Zeit drungte,  nahm  der
Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand
und gab Anweisung, den Knaben  bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen
Aushundigung einer Quittung  abzugeben,  damit man ihn dort taufe  und  uber
sein weiteres Schicksal entscheide. Im  Kloster von Saint-Merri in  der  Rue
Saint-Martin wurde  man  ihn  los.  Er  erhielt  die  Taufe  und  den  Namen
Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute  Laune hatte und seine
karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das  Kind nicht
nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde
zu diesem Behuf  einer  Amme namens Jeanne  Bussie in  der  Rue  Saint-Denis
ubergeben, welche bis  auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen
erhielt.


     Einige Wochen  sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb
in  der  Hand vor der Pforte des  Klosters von  Saint-Merri  und  sagte  dem
uffnenden Pater  Terrier,  einem  etwa  funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht
nach  Essig riechenden  Munch  "Da!"  und  stellte  den  Henkelkorb  auf die
Schwelle.
     "Was  ist  das?" sagte Terrier  und  beugte  sich  uber  den  Korb  und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
     "Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!"
     Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht
des schlafenden Suuglings freigelegt hatte.
     "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt."
     "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil  er mich  leergepumpt  hat
bis  auf  die Knochen.  Aber  damit ist  jetzt Schluss. Jetzt kunnt  Ihr ihn
selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit  Brei,  mit Rubensaft.  Er  frisst
alles, der Bastard."
     Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die
Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des
weiteren nicht belustigte.  Technische Einzelheiten  waren ihm sehr zuwider,
denn  Einzelheiten  bedeuteten  immer Schwierigkeiten,  und  Schwierigkeiten
bedeuteten  eine Sturung seiner  Gemutsruhe,  und  das konnte er  gar  nicht
vertragen. Er urgerte sich, dass er  die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er
wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb  nuhme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen.
     Langsam richtete  er sich  auf und  sog mit  einem Atemzug den Duft von
Milch  und  kusiger Schafswolle  ein, den die Amme  verstrumte.  Es war  ein
angenehmer Duft.
     "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf
du  hinauswillst.  Ich  kann  mir nur  vorstellen, dass  es  diesem Suugling
durchaus nicht schaden  wurde, wenn er  noch geraume Zeit an  deinen Brusten
luge."
     "Ihm nicht", schnarrte die Amme  zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und  dabei gegessen fur drei.  Und  wofur?  Fur drei Franc in der
Woche!"
     "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde:
Es geht also wieder einmal ums Geld."
     "Nein!" sagte die Amme.
     "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht
es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich  uffnete, und es  stunde  ein
Mensch da, dem  es um etwas  anderes ginge. Jemand, der beispielsweise  eine
kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar
Nusse.  Es  gibt doch  im Herbst eine  Menge  Dinge,  die  man vorbeibringen
kunnte. Blumen vielleicht.  Oder wenn bloß jemand kume und  freundlich
sagte:  >Gott  zum  Gruße, Pater Terrier,  ich wunsche Ihnen  einen
schunen Tag!< Aber das werde ich  wohl  nie mehr  erleben.  Wenn  es kein
Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist
es ein Handwerker, und wenn er kein  Almosen will, dann  prusentiert er eine
Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich
auf  die  Straße  gehe,  bin  ich  nach drei  Schritten umzingelt  von
Individuen, die Geld wollen!"
     "Nicht von mir", sagte die Amme.
     "Aber ich  sage dir eines: Du bist nicht die  einzige Amme im Sprengel.
Es gibt  Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen
werden, diesen entzuckenden Suugling fur  drei Franc pro  Woche an die Brust
zu   legen   oder   ihm   Brei   oder   Sufte   oder   sonstige   Nuhrmittel
einzuflußen..."
     "Dann gebt ihn einer von denen!"
     "...  Andrerseits  ist  es nicht  gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer
weiß, ob es mit anderer  Milch so gut gedeiht wie mit  deiner. Es  ist
den  Duft  deiner Brust gewuhnt,  musst  du  wissen, und den  Schlag  deines
Herzens."
     Und abermals nahm er  einen  tiefen  Atemzug  vom warmen Dunst, den die
Amme  verstrumte,  und  sagte dann,  als er merkte, dass seine  Worte keinen
Eindruck auf sie gemacht hatten:
     "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache  mit dem Prior
besprechen.  Ich werde  ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche
zu geben."
     "Nein", sagte die Amme.
     "Also gut: funf!"
     "Nein."
     "Wie viel verlangst du  denn noch?" schrie Terrier sie  an. "Funf Franc
sind ein Haufen  Geld fur die untergeordnete Aufgabe,  ein  kleines Kind  zu
ernuhren!"
     "Ich will  uberhaupt kein Geld", sagte  die Amme. "Ich will den Bastard
aus dem Haus haben."
     "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem
Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er
schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft."
     "Er ist vom Teufel besessen."
     Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
     "Unmuglich!  Es ist  absolut  unmuglich, dass  ein  Suugling vom Teufel
besessen  ist.  Ein  Suugling  ist kein  Mensch, sondern  ein  Vormensch und
besitzt noch  keine voll  ausgebildete Seele.  Infolgedessen  ist er fur den
Teufel uninteressant. Spricht  er vielleicht schon? Zuckt es in  ihm? Bewegt
er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?"
     "Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme.
     "Da  hast du es! Das  ist ein eindeutiges Zeichen.  Wenn  er vom Teufel
besessen wure, musste er stinken."
     Und  um die  Amme zu beruhigen und seinen  eigenen  Mut unter Beweis zu
stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
     "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte  er,  nachdem  er  eine Weile
geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings,
als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den  Korb hin, damit
sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch
und  schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in  der Windel  ist.
Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
     "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht
er  nicht!  Nur  kranke  Kinder  riechen,  das ist doch bekannt. Bekanntlich
riecht ein  Kind, das  Blattern hat, nach  Pferdedung,  und  eines,  welches
Scharlachfieber hat, nach alten  upfeln, und  ein schwindsuchtiges Kind, das
riecht nach Zwiebeln.  Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll  es
denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
     "Nein", sagte  die Amme. "Meine Kinder  riechen so,  wie Menschenkinder
riechen sollen."
     Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er
fuhlte,  wie  die ersten  Wallungen von Wut  uber  die Widerborstigkeit  der
Person  in  ihm aufstiegen.  Es  war  nicht auszuschließen, dass er im
Fortgang  des Disputes  beide  Arme zur  freieren Gestik benutigte,  und  er
wollte nicht, dass der Suugling  dadurch Schaden  nuhme. Vorerst  allerdings
verknotete  er seine  Hunde  hinter  dem  Rucken, streckte  der  Amme seinen
spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie
ein Menschenkind, das ja  immerhin auch - daran muchte ich  erinnern,  zumal
wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
     "Ja", sagte die Amme.
     "Und  behauptest  ferner,  dass, wenn es  nicht ruche, wie du meintest,
dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue  Saint-Denis!
-,  es dann  ein Kind des Teufels  sei?"  Er schwang die Linke hinter seinem
Rucken hervor  und  hielt  ihr  drohend  den gebogenen  Zeigefinger  wie ein
Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte.  Es war ihr nicht recht, dass
das Gespruch mit einem  Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem
sie nur unterliegen konnte.
     "Das will ich nicht  gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die
Sache etwas  mit dem  Teufel zu tun hat  oder  nicht,  das musst  Ihr selbst
entscheiden, Pater Terrier, dafur  bin ich nicht  zustundig. Ich  weiß
nur eins: dass mich vor diesem Suugling  graust, weil  er  nicht riecht, wie
Kinder riechen sollen."
     "Aha",  sagte  Terrier  befriedigt und  ließ  seinen  Arm  wieder
zuruckpendeln. "Das mit dem  Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber
nun sage  mir gefulligst: Wie  riecht  ein Suugling denn, wenn er so riecht,
wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
     "Gut riecht er", sagte die Amme.
     "Was  heisst  >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles.
Ein  Bund  Lavendel  riecht gut.  Suppenfleisch riecht gut.  Die  Gurten von
Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?"
     Die Amme zugerte. Sie wusste wohl,  wie Suuglinge rochen, sie wusste es
ganz genau, sie hatte doch  schon Dutzende  genuhrt, gepflegt,  geschaukelt,
gekusst...  sie konnte  sie  nachts  mit  der  Nase  finden,  sie  trug  den
Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in  der Nase. Aber sie hatte  ihn noch
nie mit Worten bezeichnet.
     "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln.
     "Also -",  begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil...
weil, sie  riechen nicht  uberall gleich,  obwohl  sie uberall gut  riechen,
Pater, verstehen Sie, also  an den Fußen  zum Beispiel, da riechen sie
wie ein glatter warmer Stein -  nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie
frische Butter, ja genau: wie  frische Butter  riechen  sie.  Und am  Kurper
riechen  sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch  gelegt hat.  Und am
Kopf,  da oben,  hinten  auf dem Kopf, wo das  Haar  den  Wirbel macht,  da,
schauen  Sie, Pater,  da, wo bei  Ihnen nichts mehr ist...", und  sie tippte
Terrier,  der  uber diesen Schwall  detaillierter Dummheit  fur einen Moment
sprachlos geworden war  und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze,
"...  hier, genau  hier,  da  riechen sie  am besten.  Da  riechen sie  nach
Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine
Vorstellung! Wenn man sie da  gerochen hat, dann liebt man sie, ganz  gleich
ob es die eignen  oder  fremde sind. Und  so und nicht anders  mussen kleine
Kinder  riechen. Und wenn sie nicht so  riechen,  wenn sie da oben gar nicht
riechen, noch weniger  als kalte  Luft, so  wie der da, der Bastard, dann...
Sie  kunnen  das  erkluren,  wie Sie  wollen,  Pater,  aber ich" -  und  sie
verschrunkte  entschlossen die Arme  unter  ihrem Busen  und  warf  einen so
angeekelten Blick auf den Henkelkorb  zu ihren Fußen, als enthielte er
Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
     Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr  sich ein paarmal
mit dem Finger uber die Glatze, als  wolle  er dort Haare ordnen, legte  den
Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
     "Wie  Karamel...?"  fragte  er   und  versuchte,  seinen  strengen  Ton
wiederzufinden...  "Karamel! Was weisst  du von Karamel? Hast  du schon  mal
welches gegessen?"
     "Nicht  direkt",  sagte  die  Amme.  "Aber  ich  war  einmal  in  einem
großen Hotel in der  Rue  Saint-Honore  und  habe  zugesehen,  wie  es
gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es
nicht mehr vergessen habe."
     "Jaja. Schon recht",  sagte Terrier und  entfernte den Finger  von  der
Nase. "Bitte  schweige  jetzt!  Es  ist fur  mich uberaus anstrengend,  mich
weiterhin  auf diesem  Niveau mit  dir  zu  unterhalten. Ich stelle fest, du
weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling
Jean-Baptiste  Grenouille weiter zu  ernuhren,  und  erstattest ihn  hiermit
seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde
das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen."
     Damit  packte  er  den Henkelkorb,  nahm  noch  einen Atemzug  von  dem
verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf  das Tor  ins Schloss. Dann
ging er in sein Buro.


     Pater Terrier  war ein gebildeter Mann. Er  hatte  nicht  nur Theologie
studiert,  sondern  auch  die  Philosophen  gelesen  und  beschuftigte  sich
nebenbei mit  Botanik  und Alchemie. Er  hielt einiges  auf die Kraft seines
kritischen  Geistes. Zwar  wure  er  nicht  so weit  gegangen, wie manche es
taten,  die Wunder, die  Orakel  oder die  Wahrheit der  Texte der  Heiligen
Schrift  in  Frage  zu stellen,  auch wenn sie strenggenommen  mit  Vernunft
allein nicht zu erkluren waren,  ja dieser  sogar  oft direkt widersprachen.
Von  solchen Problemen  ließ er lieber seine Finger,  sie waren ihm zu
ungemutlich  und wurden ihn nur  in die  peinlichste Unsicherheit und Unruhe
sturzen,  wo  man  doch,  gerade um  sich seiner  Vernunft zu  bedienen, der
Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte,
waren die  abergluubischen Vorstellungen des einfachen  Volkes:  Hexerei und
Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick,  Beschwurungen, Vollmondhokuspokus
und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen,
dass   solche  heidnischen  Gebruuche   nach   uber  tausendjuhriger  fester
Installation der christlichen Religion  immer  noch nicht ausgerottet waren!
Auch   die   meisten   Fulle   von   sogenannter   Teufelsbesessenheit   und
Satansbundelei  erwiesen sich  bei  nuherer Betrachtung als  abergluubisches
Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu  leugnen, seine Macht  zu
bezweifeln  -  so  weit  wurde  Terrier  nicht  gehen;  solche  Probleme  zu
entscheiden,  die  die  Grundfesten  der Theologie  beruhrten,  waren andere
Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag
es klar  zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete,
sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im
Spiel haben  konnte.  Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein
sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches  zu entdecken war, denn so
dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme
Jeanne  Bussie  entlarven ließ.  Und noch  dazu mit der Nase! Mit  dem
primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach
Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube,
wie in dunkelster heidnischster  Vorzeit, als  die  Menschen noch  wie Tiere
lebten, als sie  noch  keine scharfen  Augen besaßen, die  Farbe nicht
kannten, aber Blut riechen  zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu
erriechen,  von  kannibalischen  Riesen  und  Werwulfen  gewittert  und  von
Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende,
qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht  der  Narr mit  der
Nase< mehr  als mit den  Augen,  und  wahrscheinlich musste das Licht der
gottgegebenen Vernunft noch  tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten
Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
     "Ach, und das  arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem
Korb und schlummert,  ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen
es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt
die  unverschumte  Person  zu  behaupten.  Ja,  was  sagen  wir  denn  dazu?
Duziduzi!"
     Und er  wiegte den Korb  sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling
mit dem Finger uber den  Kopf und sagte von Zeit  zu Zeit "duziduzi", was er
fur einen auf  Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt.
"Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
     Nach  einer Weile zog er den  Finger  zuruck, hielt ihn sich  unter die
Nase,  schnupperte, roch  aber nichts  als das  Sauerkraut,  das er  mittags
gegessen  hatte. Er  zugerte  einen  Moment,  blickte sich um,  ob ihn  auch
niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine  dicke Nase hinein. Ganz
knapp,  so  dass  die  dunnen rutlichen Kindshaare  seine Nustern kitzelten,
schnoberte er uber den  Kopf  des Suuglings, in der Erwartung, einen  Geruch
aufzusaugen.  Er wusste  nicht so recht,  wie  Suuglinge am Kopf zu  riechen
hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so  viel stand fest, denn Karamel  war
ja geschmolzener Zucker, und  wie sollte  ein Suugling, der bisher nur Milch
getrunken hatte, nach geschmolzenem  Zucker  riechen.  Nach Milch kunnte  er
riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren  konnte
er   riechen,  nach  Haut  und  Haaren  und  vielleicht  nach  ein  bisschen
Kinderschweiß. Und  Terrier schnupperte und  stellte sich darauf  ein,
Haut,  Haare und ein  bisschen Kinderschweiß zu riechen.  Aber er roch
nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht,
dachte er, so wird das  sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht
eben nicht, genausowenig wie er  spricht, luuft oder  schreibt.  Diese Dinge
kommen erst mit dem  Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft
aus,  wenn er pubertiert. So  ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon
Horaz  "Es buckelt der Jungling, es  duftet erbluhend  die Jungfrau wie eine
weiße  Narzisse..."?-  und  die  Rumer  verstanden  etwas  davon!  Der
Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft  - also ein sundiger Duft. Wie
sollte  also  ein  Suugling,  der doch  noch  nicht  einmal  im  Traume  die
fleischliche  Sunde  kennt,  riechen?  Wie sollte er riechen?  Duziduzi? Gar
nicht!
     Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte.
Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke
hervor, klein und rot,  und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier
luchelte  und  kam  sich  plutzlich  sehr gemutlich  vor.  Fur einen  Moment
gestattete er  sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des
Kindes.  Er wure  kein  Munch  geworden,  sondern ein normaler  Burger,  ein
rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib  genommen, ein  warmes
wollig und milchig duftendes Weib, und  hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und
hutschte  ihn  nun  hier  auf  seinen  eigenen  Knien,  sein  eigenes  Kind,
duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas
so  Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn  auf den Knien, duziduzi, es
war ein Bild so alt  wie die  Welt und  immer ein neues und richtiges  Bild,
solange die  Welt bestand, ach  ja! Es  wurde Terrier ein  bisschen warm ums
Herz und sentimental im Gemut.
     Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase
bewegte  sich, sie zog sich nach oben und schnupperte.  Sie sog die Luft ein
und schnaubte sie in kurzen Stußen aus,  wie bei  einem unvollkommenen
Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und  das Kind  tat  die Augen  auf.  Die
Augen   waren    von   unbestimmter   Farbe,   zwischen   austerngrau    und
opalweiß-cremig,  von einer  Art schleimigem  Schleier  uberzogen  und
offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck,
dass sie ihn gar nicht gewahrten.  Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen
des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu
fixieren, und Terrier hatte das sehr  sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel
er,  seine  Person, Terrier selbst.  Die  winzigen  Nasenflugel um die  zwei
winzigen  Lucher  mitten  im  Gesicht  des  Kindes  bluhten  sich  wie  eine
aufgehende  Blute. Oder eher wie die  Nupfe jener kleinen  fleischfressenden
Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen
schien ein unheimlicher Sog von ihnen  auszugehen.  Es war Terrier, als sehe
ihn das  Kind  mit  seinen Nustern,  als sehe es ihn  scharf und prufend an,
durchdringender,  als man  es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit
seiner Nase, das von ihm,  Terrier,  ausging, und das  er nicht zuruckhalten
und  nicht verbergen konnte... Das geruchlose  Kind roch ihn schamlos ab, so
war es! Es  witterte ihn aus!  Und  er kam sich mit  einem Mal stinkend vor,
nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er
kam  sich  nackt  und  hußlich  vor,  wie begafft  von  jemandem,  der
seinerseits  nichts  von  sich preisgab.  Selbst durch seine Haut schien  es
hindurchzuriechen, in  sein Innerstes  hinein.  Die  zartesten  Gefuhle, die
schmutzigsten Gedanken lagen  bloß vor dieser  gierigen kleinen  Nase,
die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein  Stups, ein sich stundig
kruuselndes  und  bluhendes  und bebendes winziges  luchriges Organ. Terrier
schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas
ubelriechendem,  mit  dem  er  nichts   zu  tun  haben  wollte.  Vorbei  der
anheimelnde Gedanke,  es  handle  sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben
das  sentimentale  Idyll  von  Vater  und  Sohn  und  duftender  Mutter. Wie
weggerissen  der gemutlich  umhullende  Gedankenschleier, den er sich um das
Kind und  sich selbst zurecht phantasiert  hatte: Ein  fremdes, kaltes Wesen
lag auf  seinen Knien, ein feindseliges Animal, und  wenn er  nicht  ein  so
besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter
gewesen wure, so  hutte er es  in einem Anflug von Ekel wie eine  Spinne von
sich geschleudert.
     Mit einem Ruck stand Terrier  auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er
wollte  das  Ding loshaben,  muglichst schnell, muglichst  gleich, muglichst
sofort.
     Und da begann es zu schreien. Es kniff  die Augen zusammen, riss seinen
roten Schlund auf und kreischte  so  widerwurtig  schrill, dass Terrier  das
Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb  mit ausgestreckter Hand
und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte
nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor
Brullen zerplatzen.
     Weg   damit!  dachte  Terrier,   augenblicklich   weg   mit   diesem...
>Teufel<  wollte  er  sagen  und riss sich zusammen  und  verkniff  es
sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem  unertruglichen Kind! Aber wohin?
Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser  im Quartier, aber das  war ihm
zu nah, zu dicht  auf der Haut war ihm das,  weiter  weg musste das Ding, so
weit, dass  man's nicht hurte, so weit,  dass  man's  ihm nicht  jede Stunde
wieder vor die Ture stellen  konnte,  nach  Muglichkeit  musste  es in einen
anderen  Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am  allerbesten extra muros,
in  den Faubourg  Saint-Antoine, das war's!, dahin kam  der schreiende Balg,
weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
     Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden  Korb und rannte
davon,  rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die
Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis  zur Rue de
Charonne  und diese fast bis zum Ende,  wo er, in  der Nuhe des Klosters der
Madeleine de Trenelle, die  Adresse  einer gewissen  Madame Gaillard kannte,
welche  Kostkinder jeglichen Alters  und jeglicher Art aufnahm,  solange nur
jemand dafur zahlte,  und dort gab er  das immer  noch  schreiende Kind  ab,
zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster
angekommen, seine  Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf  bis
Fuß und  kroch in  seiner Kammer ins Bett, wo  er viele Kreuze schlug,
lange betete und endlich erleichtert entschlief.


     Madame Gaillard, obwohl  noch keine dreißig  Jahre alt, hatte das
Leben schon hinter sich.  uußerlich sah  sie so alt  aus, wie es ihrem
wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und  dreimal und hundertmal
so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie  lungst
tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber
die  Stirn  bekommen,  knapp  oberhalb  der  Nasenwurzel,  und  seither  den
Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl  fur menschliche Wurme und menschliche
Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen
Schlag ebenso fremd geworden  wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung.
Sie  empfand nichts, als  sie  sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts,
als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und
freute sich nicht an denen,  die ihr  blieben. Als ihr  Mann  sie  prugelte,
zuckte  sie  nicht,  und  sie  verspurte  keine  Erleichterung,  als  er  im
Hotel-Dieu  an der  Cholera starb.  Die  zwei  einzigen Sensationen, die sie
kannte,  waren  eine ganz leichte Gemutsverdusterung,  wenn  die  monatliche
Migrune  nahte, und  eine ganz  leichte  Gemutsaufhellung, wenn die  Migrune
wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts.
     Auf   der  anderen  Seite...   oder  vielleicht  gerade   wegen   ihrer
vollkommenen   Emotionslosigkeit,   besaß   Madame    Gaillard   einen
gnadenlosen Ordnungs-  und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr
anvertrauten  Kinder  und   benachteiligte  keines.  Sie  verabreichte  drei
Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen
dreimal am Tag  und nur bis zum zweiten  Geburtstag. Wer danach  noch in die
Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige  und eine  Mahlzeit weniger.
Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte  sie fur  die  Zuglinge, exakt  die
Hulfte behielt sie fur  sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht,  ihren
Gewinn zu erhuhen; aber sie legte  in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol
zu, auch nicht, wenn  es auf  Leben  und  Tod ging. Das Geschuft hutte  sich
sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das  Geld. Sie hatte sich das
ganz genau ausgerechnet.  Im Alter  wollte sie  sich  eine  Rente kaufen und
daruberhinaus  noch  so  viel besitzen, dass  sie es sich leisten konnte, zu
Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod
selbst  hatte  sie  kaltgelassen. Aber  ihr  graute  vor diesem uffentlichen
gemeinsamen Sterben mit  Hunderten von  fremden  Menschen.  Sie wollte  sich
einen  privaten  Tod  leisten,  und  dazu  brauchte  sie die volle Marge vom
Kostgeld: Zwar,  es gab Winter, da starben ihr von den zwei  Dutzend kleinen
Pensionuren drei  oder vier. Doch damit lag sie immer noch  erheblich besser
als die meisten  anderen privaten  Ziehmutter und  ubertraf die großen
staatlichen  oder  kirchlichen  Findelhuuser, deren  Verlustquote  oft  neun
Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im
Jahr uber zehntausend  neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ
sich mancher Ausfall verschmerzen.
     Fur den  kleinen Grenouille war das Etablissement  der  Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich  hutte  er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier
aber, bei  dieser  seelenarmen  Frau gedieh er.  Er  besaß  eine  zuhe
Konstitution.  Wer  wie  er die  eigene  Geburt  im  Abfall uberlebt  hatte,
ließ sich  nicht  mehr  so leicht  aus  der Welt  bugsieren. Er konnte
tagelang wussrige Suppen essen, er kam  mit der dunnsten Milch aus,  vertrug
das  faulste Gemuse  und  verdorbenes Fleisch.  Im  Verlauf seiner  Kindheit
uberlebte  er  die  Masern, die Ruhr,  die  Windpocken,  die  Cholera, einen
Sechsmetersturz in einen Brunnen und die  Verbruhung der Brust mit kochendem
Wasser. Zwar trug  er Narben  davon und  Schrunde und Grind und einen leicht
verkruppelten Fuß, der ihn  hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh
wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem
Baum sitzt und von einem  winzigen  Blutstrupfchen lebt,  das er vor  Jahren
erbeutet hat. Ein minimales Quantum an  Nahrung und Kleidung brauchte er fur
seinen Kurper. Fur  seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung,
Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich  bedurfte  -   waren  dem  Kinde  Grenouille  vullig  entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte  er sie sich selbst entbehrlich  gemacht, um
uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter  dem Schlachttisch hervor, mit  dem  er  sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid  und Liebe  gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen
ein reiflich  erwogener Schrei gewesen, mit dem  sich das Neugeborene  gegen
die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umstunden war  dieses ja auch  nur ohne  jene muglich,  und hutte  das  Kind
beides gefordert, so wure  es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
hutte  damals  allerdings auch  die  zweite  ihm  offenstehende  Muglichkeit
ergreifen und  schweigen und den Weg von der  Geburt zum Tode ohne den Umweg
uber das  Leben wuhlen  kunnen, und es hutte damit  der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten,  hutte es eines
Mindestmaßes   an   eingeborener   Freundlichkeit   bedurft,  und  die
besaß  Grenouille  nicht. Er  war  von  Beginn  an  ein  Scheusal.  Er
entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
     Selbstverstundlich entschied er sich  nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich  entscheidet, der  seine  mehr oder weniger  große  Vernunft  und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen  Optionen zu  wuhlen. Aber er
entschied  sich doch vegetativ, so wie eine  weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst.
     Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch  das Leben nichts anderes zu
bieten  hat als ein  immerwuhrendes uberwintern.  Der kleine  hußliche
Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel  formt,  um der Außenwelt
die geringstmugliche Fluche  zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um  nichts zu verstrumen,  kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck,  der sich extra klein und unansehnlich macht,  damit niemand ihn  sehe
und  zertrete.  Der einsame Zeck,  der in sich  versammelt  auf seinem Baume
hockt,  blind,  taub  und  stumm,  und  nur   wittert,  jahrelang   wittert,
meilenweit,  das  Blut  voruberwandernder  Tiere,  die er  aus eigner  Kraft
niemals  erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen  lassen. Er kunnte sich
auf den Boden des Waldes  fallen lassen, mit seinen sechs winzigen  Beinchen
ein  paar  Millimeter dahin  und dorthin  kriechen  und sich unters Laub zum
Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß  Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm  der huchst unwahrscheinliche Zufall  das  Blut  in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf,
lusst  sich fallen  und  krallt  und  bohrt  und beisst  sich  in das fremde
Fleisch...
     So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein Lucheln,  keinen Schrei, keinen Glanz des  Auges,  nicht  einmal  einen
eigenen Duft. Jede andere  Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen.
Nicht  so Madame  Gaillard. Sie roch  ja  nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von  ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
     Die  andern Kinder dagegen spurten sofort,  was  es mit  Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten  Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und  ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als  wure es kulter geworden  im Zimmer. Die jungeren  schrien manchmal  des
Nachts; ihnen war,  als  zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten,
es nehme ihnen  etwas den Atem. Einmal taten sich die  ulteren zusammen,  um
ihn zu ersticken. Sie  huuften Lumpen und Decken und Stroh  auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame  Gaillard ihn  am nuchsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt  und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten  es noch  ein  paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am
Hals, mit eigenen  Hunden, oder  ihm Mund oder Nase  zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn  nicht
beruhren.  Sie ekelten  sich  vor ihm wie vor einer  dicken Spinne,  die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
     Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge  auf. Sie hatten
wohl eingesehen,  dass er nicht zu vernichten war. Statt  dessen gingen  sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf
ihn.  Fur  solche Gefuhle hutte es  im  Hause  Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er  da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.


     Dabei    besaß     er,    objektiv     gesehen,    gar     nichts
Angsteinflußendes.  Er  war,   als  er  heranwuchs,   nicht  besonders
groß,  nicht  stark,  zwar   hußlich,  aber   nicht   so  extrem
hußlich,  dass man  vor ihm  hutte  erschrecken mussen.  Er  war nicht
aggressiv, nicht link, nicht  hinterhultig, er provozierte  nicht. Er  hielt
sich  lieber  abseits.  Auch  seine  Intelligenz  schien  alles  andere  als
furchterlich  zu  sein.  Erst mit  drei  Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach  er mit vier, es war das Wort  "Fische", das
in einem Moment  plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo,  als
von  ferne ein Fischverkuufer  die Rue de Charonne heraufkam und seine  Ware
ausschrie.  Die  nuchsten  Wurter,  derer  er  sich  entuußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall",  "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres  der
Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der  Filles de la Croix,
der   bei  Madame  Gaillard  gelegentlich  grubere  und   grubste   Arbeiten
verrichtete  und  sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges  Mal gewaschen  hatte.  Mit  den  Zeitwurtern, den  Adjektiven  und
Fullwurtern hatte er es weniger.  Bis auf "ja" und "nein" - die  er ubrigens
sehr sput  zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja  eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und