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Erich Kestner. Fabian
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÷ ËÎ.: "Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten". Atrium
Verlag, Zürich. Printed in Germany 1999. OCR & spellcheck by
Pashka-Nemets, 5 February 2003
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Vorwort des Verfassers
Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch kursierten im
Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile, und es wurde noch von manchen,
die es lobten, mißverstanden. Wird man's heute besser verstehen?
Gewiß nicht! Wie denn auch? Daß im Dritten Reich die
Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und millionenfach
geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere
Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich regenerieren konnten,
bereits neue, genauer, sehr alte Mächte fanatisch dabei, wiederum
standardisierte Meinungen - gar nicht so verschieden von den vorherigen -
durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht
mehr, daß man sich Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie
sich darum bemühen, wissen sie nicht, wie man's anfängt. Und schon sind,
angeblich zum Schütze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und
Literatur in Vorbereitung. Das Wort "zersetzend" steht im Vokabular der
Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimpfung ist eines
jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft,
auch erreichen.
So wird heute noch weniger als damals begriffen werden, daß der
"Fabian" keineswegs ein "unmoralisches", sondern ein ausgesprochen
moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen
Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete "Der Gang vor die
Hunde". Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß
der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem
Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er wollte
mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen
Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende
seelische Depression, die Sucht, sich zu betäuben, die Aktivität
bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch
die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht - die einer epidemischen
Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und
der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lieber hörte
man den Jahr marktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und
giftigen Patentlösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein
in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und
uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals
schildert, ist kein Poesie- und Photographiealbum, sondern eine Satire. Es
beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner
Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur,
ein legitimes Kunstmittel, ist das äußerste, was er vermag. Wenn auch
das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt
nichts hilft, ist - damals wie heute - keine Seltenheit. Eine Seltenheit
wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter
Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann,
aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
Erich Kästner
ERSTES KAPITEL
Ein Kellner als Orakel
Der andere geht trotzdem hin
Ein Institut für geistige Annäherung
Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die
Schlagzeilen der Abendblätter. Englisches Luftschiff explodiert über
Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem
Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im
Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche
Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke
für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an
den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000
Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über
das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts
Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug
schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am
Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt
hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an
und rief den Kellner.
"Womit kann ich dienen?" fragte der.
"Antworten Sie mir auf eine Frage."
"Bitte schön."
"Soll ich hingehen oder nicht?"
"Wohin meinen der Herr?"
"Sie sollen nicht fragen, Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder
nicht?"
Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von
einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: "Das beste wird
sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr."
Fabian nickte. "Gut. Ich werde hingehen. Zahlen."
"Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!"
"Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen!"
"Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?"
"Dann auch. Bitte zahlen!"
"Das versteh ich nicht!" erklärte der Kellner ärgerlich. "Warum haben
Sie mich dann überhaupt gefragt?" "Wenn ich das wüßte", antwortete
Fabian.
"Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig Pfennig", deklamierte der andere. Fabian legte eine Mark auf den
Tisch und ging. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am
Wittenbergplatz auf den Autobus I klettert, an der Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten
später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die
Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man
ist.
Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet, über
Holzkohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stundenhotels entlang, zum
Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, die ihm
Bertuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau
Sommer. Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn
ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er beschied das
Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem
Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein
Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die
Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hochhebt, um das
Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt. Dann holte er von der steifen
Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. "Besucht die Exotikbar,
Nollendorfplatz 3, Schöne Frau en, Nacktplastiken, Pension Condor im
gleichen Hause", stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung,
er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hinunter, auf den jungen
Mann in der Joachimsthaler Straße, im Gewimmel der Menge, im
Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig
entzündeten Nacht.
Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den
Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge
war es, mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen
Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die
Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte.
"Passense auf!" schrie der Polizist.
Fabian zog den Hut und sagte: "Werde mir Mühe geben."
In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner,
erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Mantel und
verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame,
bestimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte: "Darf ich Sie in mein
Büro bitten?" Fabian folgte.
"Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen."
Sie blätterte in einem Heft und nickte. "Bertuch, Friedrich Georg,
Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraße 9,
musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünfundzwanzig Jahre
alt."
"Das ist er!"
"Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in dieser Zeit
fünfmal anwesend."
"Das spricht für das Institut."
"Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn Mark
extra."
"Hier sind dreißig Mark." Fabian legte das Geld auf den
Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine Schublade, nahm
einen Federhalter und sagte: "Die Personalien?"
"Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit
Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was
müssen Sie noch wissen?"
"Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?"
"Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine
Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber
das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei." Irgendwo
wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst:
"Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt
machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen,
sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren.
Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur
vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Der idealen Absichten
des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen.
Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu
werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub
zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht
den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu
gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu
vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie
mich verstanden, Herr Fabian?"
"Vollkommen."
"Dann bitte ich Sie, mir zu folgen." Dreißig bis vierzig Personen
mochten anwesend sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde
getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an, sagte,
daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und
verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksoda
und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesellschaft?
"Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind", bemerkte ein kleines
schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu
rauchen an.
"Sie wirken sympathisch", sagte sie. "Sie sind im Dezember geboren."
"Im Februar."
"Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte
Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?"
"Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Substanzpartikel
bestünden aus umeinander kreisenden elektrischen Energiemengen. Halten Sie
diese Ansicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung, die dem wahren
Sachverhalt entspricht?"
"Empfindlich sind Sie auch noch?" rief die Person. "Aber es macht
nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?"
Er hob die Schultern. "Ist das ein förmlicher Antrag?"
"Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist
nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die
Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als
Ehemann vor."
"In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen." Sie lachte,
als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf sein Knie. "Richtig
gehofft! Man behauptet, ich litte an stellungssuchender Phantasie. Sollten
Sie im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen,
meine Wohnung und ich sind klein, aber stabil." Er entfernte die fremde und
unruhige Hand von seinem Knie und meinte: "Möglich ist alles. Und jetzt will
ich mir das Lokal ansehen." Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und
umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm
und sagte: "Man wird gleich tanzen."
Sie war größer als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige
Schwadroneuse befolgte die Statuten und verschwand. Der Kellner setzte das
Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewegung. Man tanzte. Fabian
betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blasses infantiles
Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein
schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener Grad von
Schweigsamkeit erreicht wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines
belanglosen dazu, unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den
Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander
neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufgerissen hatten.
Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen
Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nicht
auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie
breche auf. Er ging mit.
Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein
und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen. "Aber ich habe nur noch zwei
Mark", erklärte er. "Das macht fast gar nichts", gab sie zur Antwort, und
dem Chauffeur rief sie zu: "Licht aus!" Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an
und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn
in die Unterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Verdeckscharnier,
hielt sich den Kopf und sagte: "Aua! Das fängt gut an."
"Sei nicht so empfindlich", befahl sie und überschüttete ihn mit
Aufmerksamkeiten.
Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm weh. Fabian
war nicht bei der Sache. "Ich wollte eigentlich, bevor Sie mich erwürgen,
noch einen Brief schreiben", röchelte er.
Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen,
die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte weiter. Seine Bemühung,
sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung
führte zu neuen Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere
Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.
Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Gesicht,
bezahlte die Fahrt und äußerte vor der Haustür: "Erstens ist dein
Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee."
Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte: "Ihr Antrag
ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein."
"Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen wird dich
wecken."
"Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen.
Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Telegramm. Das bringt die Wirtin
ms Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache."
"Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten
wirst?"
"Ich weiß sogar, was drinsteht."
"Nämlich?"
"Es wird heißen: "Scher dich aus dem Bett. Dein treuer Freund
Fabian." Fabian, das bin ich." Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute
sich über den gelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still.
Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser
entlangspazieren könnte!
"Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?"
"Nein, aber das ist der pure Zufall", sagte er.
"Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konsequenzen nichts
liegt?" fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf.
"Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig."
"Also hopp!" sagte sie. "Der Neugier sind keine Schranken gesetzt." Die
Tür schloß sich hinter ihnen.
ZWEITES KAPITEL
Es gibt sehr aufdringliche Damen
Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
Betteln verdirbt den Charakter
Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschentuch und rieb
die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Krawatte saß schief. Die
Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. "Wissen Sie,
was eine Megäre ist?" fragte er. Sie legte den Arm um ihn. "Ich weiß
es, aber ich bin hübscher."
Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete. "Bringen Sie uns
Tee." "Der Tee steht in Ihrem Zimmer."
"Gut. Gehen Sie schlafen!" Das Mädchen verschwand im Korridor.
Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ins Schlafzimmer,
schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaretten zurecht und sagte mit einer
umfassenden Geste: "Bediene dich!"
"Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!"
"Wo?" fragte sie.
Er überhörte das. "Sie heißen Moll?"
"Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasiumbildung etwas zu lachen
haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder."
Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß. "Na, es wird ja
langsam", meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee und ein
Glas Kognak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit.
Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er
trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert war es nicht. Was
hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und
hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu
reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände.
Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie
untersuchen wollte, mußte sie haben. Nur während man sie besaß,
konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele
aufschnitt.
"So, nun wird der kleine Junge geschlachtet", sagte die Blondine.
Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen
Schritt zurück. Sie aber rief "Hurra!" und sprang ihm derart an den Hals,
daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dame auf den
Fußboden zu sitzen kam.
"Ist sie nicht schrecklich?" fragte da eine fremde Stimme. Fabian
blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein
dürrer, großnasiger Mensch und gähnte.
"Was wollen Sie denn hier?" fragte Fabian.
"Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß
Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen."
"Mit Ihrer Frau?"
Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vorwurfsvoll:
"Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du
schon wünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du
sie mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das
wird dem Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als du
mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsanwalt und
außerdem", er gähnte herzzerreißend, "und außerdem der
Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht."
Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und ordnete
seinen Scheitel. "Hält sich Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein Name
ist Fabian." Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Es freut mich,
einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die Umstände sind ebenso
gewöhnlich wie ungewöhnlich. Das ist Ansichtssache. Aber falls Sie der
Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz."
Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne, streichelte
ihn und sagte zu ihrem Mann: "Wenn er dir nicht gefällt, brech ich den
Kontrakt."
"Aber er gefällt mir ja", antwortete der Rechtsanwalt.
"Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen oder ein
Rodelschlitten", meinte Fabian.
"Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!" rief die Frau und
preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust.
"Himmeldonnerwetter!" schrie er. "Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!"
"Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene", erklärte Moll.
"Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und ihm dort alles
Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die Situation als
merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir dann wieder herüber.
Gute Nacht." Der Rechtsanwalt gab seiner Frau die Hand. Sie stieg in ihr
niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwischen den Kissen und sagte:
"Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch."
"Ja, ja", antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zündete sich eine
Zigarette an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke über die Knie und
blätterte in einem Aktenbündel.
"Mich geht zwar die Sache nichts an", begann Fabian, "aber was Sie sich
von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem
Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?"
"Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung
als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen
Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: "Die Vertragspartnerin verpflichtet
sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich
dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen,
unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten. Jedes
Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der
finanziellen Monatszuwendung geahndet." Der Kontrakt ist sehr interessant.
Soll ich ihn in extenso vorlesen?" Moll holte den Schreibtischschlüssel aus
der Tasche.
"Bemühen Sie sich nicht!" Fabian wehrte ab. "Wissen möchte ich nur,
wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen Kontrakt überhaupt
aufzusetzen."
"Meine Frau träumte so schlecht."
"Wie?"
"Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offensichtlich,
daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehedauer zunahmen und
Wunschträume erzeugten, von deren Inhalt Sie, mein Herr, sich
glücklicherweise noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück,
und sie bevölkerte ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und
Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlössen einen Vertrag."
"Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgreicher und
geschmackvoller gewesen wäre?" fragte Fabian ungeduldig.
"Zum Beispiel, mein Herr?" Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht.
"Zum Beispiel:
pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?"
"Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh."
"Das kann ich gut verstehen."
"Nein!" rief der Rechtsanwalt. "Das können Sie nicht verstehen! Irene
ist sehr kräftig, mein Herr."
Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der
Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich, lief im
Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermutlich hatte es dem alten
langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht, von seiner Frau übers Knie gelegt
zu werden.
"Ich will gehen", sagte er. "Geben Sie mir den Hausschlüssel!"
"Ist das Ihr Ernst?" fragte Moll ängstlich. "Aber Irene erwartet Sie
doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten,
wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sie
weggeschickt. Bleiben Sie bitte! Sie hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie
ihr doch das kleine Vergnügen!"
Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. "Bleiben
Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie werden wiederkommen. Sie werden
unser Freund bleiben. Und ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie's
mir zu Gefallen."
"Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monatseinkommen
garantieren?"
"Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvermögend."
"Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich eigne mich
nicht für den Posten."
Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fabian einen
Schlüsselbund und sagte: "Jammerschade, Sie waren mir von Anfang an
sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar Tage. Vielleicht überlegen
Sie sich's. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen."
Fabian knurrte: "Gute Nacht", ging leise durch die Diele, nahm Hut und
Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hinter sich zu und galoppierte
die Treppe hinunter. Auf der Straße holte er tief Atem und schüttelte
den Kopf. Da spazierten die Menschen hier unten vorüber und hatten keine
Ahnung, wie verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe,
durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine Kleinigkeit gegen
die Leistung, das, was man dann sähe, zu ertragen.
"Ich bin sehr neugierig", hatte er der blonden Person erzählt, und nun
lief er auf und davon, statt seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern.
Dreißig Mark war er losgeworden. Zwei Mark hatte er noch in der
Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und
quer durch düstere, unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor den
Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er m die
Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der
Spichernstraße aus der Unterwelt wieder herauf unter den freien
Himmel.
Er ging in sein Stammcafé. Nein, Doktor Labude sei nicht mehr da. Er
habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, bestellte Kaffee und rauchte.
Der Wirt, ein gewisser Kowalski, erkundigte sich nach dem werten
Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr Komisches passiert. Kowalski
lachte, daß die falschen Zähne blitzten. Der Kellner Nietenführ habe
es zuerst beobachtet. "Dort drüben am runden Tisch saß ein junges
Paar. Die beiden unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Zigarette an und war
von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist."
"Das ist doch nicht komisch."
"Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die Frau -
hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte gleichzeitig mit
einem Herrn vom Nebentisch. Und das in einer Weise! Nietenführ holte mich
unauffällig heran. Der Anblick war toll. Der Kerl steckte ihr
schließlich einen Zettel zu. Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen
Wisch und warf ihn auf den Nebentisch. Währenddessen sprach sie aber auch
auf ihren Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -
ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Simultanspielerin
übertraf alle."
"Warum ließ er sich denn das gefallen?"
"Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt sofort! Also, wir
wunderten uns natürlich auch, warum er sich das bieten ließ. Er
saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig, legte den Arm um ihre
Schultern, und währenddessen nickte sie dem Mann vom Nebentisch zu. Der
nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging
dann hinüber, weil sie zahlen wollte." Herr Kowalski steckte den massigen
Kopf hoch und lachte himmelwärts. "Nun, woran lag's?"
"Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!" Der Wirt machte
eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fabian blickte erstaunt
hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar.
An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfskellner waren
damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen. "Scheren
Sie sich auf der Stelle fort. Den ganzen Tag diese Bettelei, das ist
ekelhaft", sagte Nietenführ zischend. Und der Hilfskellner zerrte den
Menschen, der blaß war und kein Wort sprach, hin und her.
Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: "Lassen
Sie sofort den Herrn los!" Die zwei gehorchten widerstrebend.
"Da sind Sie ja", meinte Fabian und gab dem Bettler die Hand. "Es tut
mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt hat.
Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch." Er führte den Mann, der
nicht wußte, wie ihm geschah, in seine Ecke, hieß ihn Platz
nehmen und fragte: "Was möchten Sie essen? Wollen Sie ein Glas Bier
trinken?"
"Sie sind sehr freundlich", sagte der Bettler. "Aber ich werde Ihnen
Ungelegenheiten machen."
"Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas aus."
"Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und
hinausschmeißen."
"Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu
sitzen? Sie sind ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends
durch die Tür läßt."
"Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber", sagte
der Mann. "Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die
Fürsorge. Mein Magen ist krank vom vielen Kaviar."
"Was sind Sie von Beruf?"
"Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war ich
auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das einzige, was ich noch nicht
erlebt habe, ist der Selbstmord. Aber das läßt sich nachholen." Der
Mann saß auf der Stuhlkante und hielt die Hände zitternd vor den
Westenausschnitt, um das dreckige Hemd zu verbergen. Fabian wußte
nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im Kopf, viele Sätze. Keiner war
am Platz. Er stand auf und sagte: "Einen Augenblick, der Kellner wünscht,
von einer Abordnung geholt zu werden." Er lief nach dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn durchs Lokal.
Der Bettler war fort.
"Ich zahle morgen!" rief Fabian, stürzte aus dem Café und sah sich um.
Der Mann war verschwunden.
"Wen suchen Sie denn?" fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer.
Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: "So ein
Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt gewonnen. Schmalnauer hat wie ein
Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk
will morgen früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es
schlief."
"Sie sind doch ein politischer Redakteur", entgegnete Fabian.
"Dachstuhlbrände gibt's auf jedem Gebiet", sagte Münzer. "Gerade
nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sie was, kommen Sie
mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an."
Münzer stieg in seinen kleinen Privatwagen. Fabian setzte sich neben
den Redakteur. "Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?" fragte er.
"Ich hab es unserm Handelsredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding zu
teuer", erklärte Münzer. "Er ärgert sich immer so schön, wenn er mich in
sein ehemaliges Prachtstück klettern sieht. Das ist der Spaß schon
wert. Wissen Sie, daß Sie auf eigenes Risiko mitfahren? Sollten Sie
sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung."
Dann fuhren sie los.
DRITTES KAPITEL
Vierzehn Tote in Kalkutta
Es ist richtig, das Falsche zu tun
Die Schnecken kriechen im Kreis
Der Korridor war leer. In der Handelsredaktion brannte Licht, es
saß jemand im Zimmer, die Tür stand offen. "Schade, daß Malmy
schon im Haus ist", sagte Münzer verstimmt. "Nun hat er sein Auto wieder
nicht gesehen. Moment. Mal horchen, was sich in der Weltgeschichte tut."
Er riß eine Tür auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an
einer Zimmerwand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne, die
Stimmen der Stenotypistinnen. "Was Wichtiges?" schrie Münzer in den Lärm
hinein.
"Die Rede des Reichskanzlers", antwortete eine Frau.
"Richtig", sagte der Redakteur. "Der Kerl schmeißt mir mit seiner
Quasselei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text vollständig
vor?"
"Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!" "Sofort m die Maschine
damit, dann zu mir!" kommandierte Münzer, schlug die Tür zu und führte
Fabian in die Räume der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte
er auf den Schreibtisch. "Schauen Sie sich die Bescherung an! Erdbeben aus
Papier!" Er wühlte in dem Haufen neu eingegangener Meldungen, schnitt mit
einer Schere, wie ein Zuschneider, einiges ab und legte es beiseite. Den
Rest warf er in den Papierkorb. "Marsch, ins Körbchen", sagte er dabei. Dann
klingelte er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel mit
zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mit einem
aufgeregten jungen Mann zusammen, der herein wollte. "Der Chef hat eben
angerufen", erzählte der junge Mann atemlos. "Ich muß im Leitartikel
fünf Zeilen streichen. Sie wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme
gerade aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen lassen."
"Sie sind ein Tausendsassa", erklärte Münzer. "Ich mache bekannt:
Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich, Irrgang ist der
Künstlername. Herr Fabian." Die beiden gaben einander die Hand.
"Aber", sagte Herr Irrgang betreten, "nun sind doch in der Spalte fünf
Zeilen frei."
"Was tut man m einem so außergewöhnlichen Fall?" fragte Münzer.
"Man füllt die Spalte", erklärte der Volontär. Münzer nickte. "Steht
nichts im Satz?" Er wühlte in den Bürstenabzügen. "Ausverkauft", erklärte
er. "Sauregurkenzeit."
Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und
schüttelte den Kopf.
"Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein", schlug der junge Mann
vor.
"Sie hätten Säulenheiliger werden sollen", sagte Münzer. "Oder
Untersuchungsgefangener, oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine
Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sie mal auf!" Er
setzte sich hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab
das Blatt dem jungen Mann. "So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn's nicht
reicht, ein Viertel Durchschuß."
Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz leise:
"Allmächtiger Vater" und setzte sich, als sei ihm plötzlich schlecht
geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen knisternden Berg
ausländischer Zeitungen.
Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs Hand
zitterte, und las: "In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen
Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation
sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe
ist vollkommen wiederhergestellt." Ein alter Mann schlurfte m Pantoffeln ins
Zimmer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer hin.
"Kanzlerrede, Fortsetzung", murmelte er. "Den Schluß geben sie in zehn
Minuten durch." Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs
Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein
mittelalterliches Spruchband aussahen, dann begann er zu redigieren. "Mach
hurtig, Jenny", sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
"Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden",
entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte
fassungslos: "Vierzehn Tote."
"Die Unruhen haben nicht stattgefunden?" fragte Münzer entrüstet.
"Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen
statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange
wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit
nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun
entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie martern und der
Stadtausgabe beilegen." Der junge Mann ging.
"Und so was will Journalist werden", stöhnte Münzer und strich
aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des Reichskanzlers herum.
"Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt's
aber leider nicht."
"Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere
ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?" fragte Fabian.
Münzer bearbeitete den Reichskanzler. "Was soll man machen?" fragte er.
"Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle
sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber,
was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen." Und
dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus.
"Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als
durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine
noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die
öffentliche Meinungslosigkeit."
"Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein", meinte Fabian.
"Und wovon sollen wir leben?" fragte Münzer. "Außerdem, was
sollen wir statt dessen tun?"
Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer
schenkte ein und hob sein Glas. "Die vierzehn toten Inder sollen leben!"
rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. "Einen
Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!"
erklärte er. "Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser,
in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda
kriegte er dafür die Drei." Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Und
wie überschreibt man den Scherzartikel?"
"Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben", sagte Fabian
ärgerlich.
Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte
hinter und antwortete: "Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung,
der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegenschreiben,
schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung."
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte Fabian. "Schreiben Sie dafür!"
"O nein", rief Münzer. "Wir sind anständige Leute. Tag, Malmy."
Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.
"Sie dürfen ihm nichts übelnehmen", sagte der Handelsredakteur zu
Fabian. "Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er
lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft
Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten." Der alte Bote brachte wieder
Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte
das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter. "Sie
mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?" fragte Fabian Herrn Malmy.
"Was tun Sie außerdem?"
Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. "Ich lüge
auch", erwiderte er. "Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das
System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich
diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems,
dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen
Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind
begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und
ich bin außerdem ..."
"Ein Zyniker", warf Münzer ein, ohne aufzublicken. Malmy hob die
Schultern. "Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein
Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das
aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen."
Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach mit Münzer an
Hand der Postauflage, welche Meldungen sie aus dem Blatt werfen und welche
sie statt dessen in die Stadtausgabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat
zwei Dachstuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebulose
Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen galten. Den
ostelbischen Großgrundbesitzern waren vom Landwirtschaftsminister
Zollerhöhungen in Aussicht gestellt worden. Die Untersuchung gegen die
Direktoren des Städtischen Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende
Wendung erfahren.
"Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?" fragte Münzer.
"Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine gute Schlagzeile. Die Sache
muß in Satz. Wenn die Matern zu spät kommen, kriegen wir wieder Krach
mit dem Maschinenmeister."
Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine Stirn
schwitzte. "Der Kanzler fordert Vertrauen", schlug er vor.
"Mäßig", urteilte Münzer. "Nehmen Sie sich ein Wasserglas, und
trinken Sie erst einen Schluck Wein!" Der junge Mann befolgte den Rat, als
sei er ein Befehl. "Deutschland oder die Trägheit des Herzens", sagte Malmy.
"Reden Sie keinen Unsinn!" rief der politische Redakteur. Dann schrieb
er eine Zeile groß mit dem Bleistift über das Manuskript und erklärte:
"Der Groschen gehört mir." "Was haben Sie denn geschrieben?" fragte Fabian.
Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte pathetisch:
"Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!" Der Bote holte die Papiere. Der
Handelsredakteur griff in die Tasche und legte wortlos ein Zehnpfennigstück
auf den Schreibtisch.
Sein Kollege blickte verwundert hoch.
"Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig wird",
behauptete Malmy.
"Um welche Aktion handelt es sich?"
"Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten", sagte Malmy, und
Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Grenzen. Dann stürzte er ans
Telefon. Es hatte geläutet. "Ein Abonnent möchte etwas wissen", bekundete er
nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. "Sie sitzen am
Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe heißt."
Münzer nahm ihm den Hörer weg. "Einen Augenblick", sagte er. "Wir sagen
Ihnen sofort Bescheid, mein Herr." Dann winkte er Irrgang und flüsterte:
"Feuilleton."
Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln.
"Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte
schön. Guten Abend." Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüttelte den
Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der Nähe
des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich von einem Setzer, der
nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung
sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile
auf der ersten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der
Theaterkritiker, an den Tisch gekommen. Nun tranken sie fleißig.
Irrgang, der junge Mann, war schon fast hinüber. Strom, der Kritiker,
verglich einige namhafte Regisseure mit Schaufensterdekorateuren, das
Theater der Gegenwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramatiker, behauptete
Strom, es gebe welche.
"Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig,
und Strom lachte ohne Anlaß.
Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens werden Reich und Wirtschaft
in wachsendem Maße überfremdet", behauptete der Redakteur. "Zweitens
genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in
großen Posten abgerufen wird, sacken wir alle ab, die Banken, die
Städte, die Konzerne, das Reich."
"Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang.
"Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gigantische
Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dummheit." Malmy musterte den
jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter
im Anzug." Irrgang legte den Kopf auf den Tisch. "Werden Sie
Sportredakteur", riet Malmy. "Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt
nicht so große Anforderungen." Der Volontär stand auf, schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. "Ich bin ein
Schwein", murmelte er.
"Eine ausgesprochen russische Atmosphäre", stellte Strom fest.
"Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen
und streichelte dem Politiker die Glatze.
"Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei.
Malmy lächelte Fabian zu. "Der Staat unterstützt den unrentablen
Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindustrie. Sie liefert
ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb
unserer Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu
teuer; der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den Schwund
der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht aufzubürden
wagt; das Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das
etwa nicht konsequent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!"
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer und fing mit vorgeschobener
Unterlippe die Tränen auf.
"Sie überschätzen sich, Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer
zog, während er weiter weinte, ein gekränktes Gesicht. Er war entschieden
beleidigt, daß man ihn darin hindern wollte, das zu sein, wofür er
sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt.
Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären. "Die Technik
multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbeitsheer. Die
Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika
verbrennt man Getreide und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In
Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor. Die Menschen sind verzweifelt, weil der Boden zu viel
trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine
Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen
Witterungsverhältnisse begraben lassen." Malmy stand auf, wankte ein wenig
und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.
"Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten. Wer dagegen
ist, stehe auf."
Münzer erhob sich mühsam.
"Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal."
Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.
Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball
heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe
die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser
äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur
heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem
Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten
und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche
Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist."
"Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!" rief
Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen."
"Lassen wir die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy. "Wir werden
nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders
niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige von diesen und jenen
mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an
der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen,
daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern.
"Wozu sind die anderen da?", denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl.
Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig
ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung
nimmt keinen Anfang."
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor
den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
"Der Blutkreislauf ist vergiftet", rief Malmy. "Und wir begnügen uns
damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen,
ein Pflaster zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es
nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern
bepflastert, kaputt!"
Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und
sah den Redner bittend an.
"Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy.
"Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein
Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige
Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!"
"Es ist der Geist, der sich den Körper baut", behauptete Münzer und
warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende
Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den
Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden, es gebe
ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts
oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem
Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die
Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das
heißt, die Therapie zu weit treiben."
Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte
das Weite.
Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den
Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er m die
verkehrte Richtung: "Mediziner hätten Sie werden sollen." Dann plumpste er
wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er
brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!"
Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war auch ein Schwein." Dann
weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen.
"Einfach lächerlich", knurrte er. "Geistige Erneuerung, Trägheit des
Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja
gelacht, wäre das ja!"
Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Eine Frau, die
ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: "Aber wo
kriegen wir denn das Geld her, Arthur?"
"Hab ich dich gefragt?" schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann
beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am
Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl."
Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: "Habe ich recht? Wegen
solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke nicht daran. Es wird
weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun."
Münzer hatte sich's bequem gemacht, lag auf dem Sofa und schnarchte
schon, obwohl er noch gar nicht schlief.
"Und Ihr Auto habe ich doch", grunzte er und drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher
und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol",
erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz.
"Ein Kriegsprodukt", sagte Strom. "Eine bedauernswerte Generation."
Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten
Dinge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie
unglaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in seinem Pathos von
der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier, Fabian hätte plötzlich an der
Richtigkeit der Rechnung gezweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und
betrachtete Malmy. Der saß steil auf dem Stuhl und war mit dem Blick
sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen Ruck, sah
Fabian an und sagte: "Man sollte sich mehr zusammennehmen. Schnaps
zerfrißt den Maulkorb."
Fabian erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem
Handelsredakteur.
"Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig.
"Ich bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor der Tür
stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen
glauben machen will, man spüre die Umdrehungen der Erde. Die Bäume und
Häuser stehen noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als
Zwillinge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es einmal! Doch
heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat,
als kennten sie einander nicht. Was war das für eine komische Kugel, ob sie
sich nun drehte oder nicht! Er mußte an eine Zeichnung von Daumier
denken, die "Der Fortschritt" hieß. Daumier hatte auf dem Blatt
Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war
das Schlimmste.
VIERTES KAPITEL
Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom
Frau Hohlfeld ist neugierig
Ein möblierter Herr liest Descartes
Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem hatte er
einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit damit, daß er
zunächst frühstückte.
"Wo nehmen Sie bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian.
"Sie verdienen weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein
Sparkonto. Und dabei essen Sie derart viel, daß ich davon mit satt
werde."
Fischer kaute hinter. "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte er.
"Wir Fischers sind dafür berühmt."
"Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen.
Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. "Bevor ich's vergesse,
Kunze hat eine Inseratensene gezeichnet, zu der wir gereimte Zweizeiler
liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher."
"Ihr Zutrauen ehrt mich", sagte Fabian, "aber ich habe noch mit den
Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun. Dichten Sie inzwischen
ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen und Ihrer werten Familie das
Frühstücken, wenn sich's nicht reimt?" Er sah durchs Fenster, zur
Zigarettenfabrik hinüber, und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt
auf den Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken an
der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und starrte das Plakat
an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller
daneben errichteten, dem Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette
bedeckt war. Er notierte: "Nichts geht über ... So groß ist ...
Turmhoch über allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl
er nicht einsah, wozu.
Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung an.
"Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor."
"Schon möglich", sagte Fabian.
"Was fangen Sie an", fragte der andere, "wenn man Sie hier vor die Tür
setzt?"
"Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht,
gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege,
suche ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir
nicht mehr an."
"Erzählen Sie mal was von sich", bat Fischer. "Während der Inflation
hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte
jeden Tag zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute
wußten, wie groß ihr Kapital war."
"Und dann?"
"Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft."
"Warum gerade einen Grünwarenladen?"
"Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Doktor Fabians
Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, zogen wir mit einem
wackeligen Handwagen in die Markthalle."
Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?"
"Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt
als Adressenschreiber angestellt war."
"Wie hieß denn Ihre Dissertation?"
"Sie hieß "Hat Heinrich von Kleist gestottert?" Erst wollte ich
an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans Sachs
Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange. Genug,
dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem Plakat auf und ab. Fischer
schielte neugierig zu ihm hin. Doch er wagte nicht, das Gespräch zu
erneuern. Seufzend drehte er. sich im Stuhl herum und musterte seine
Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration vertrauend, die
Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier.
Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort."
Und zu Fabian meinte er: "Ihr Freund Labude." Fabian nahm den Hörer.
"Tag, Labude, was gibt's?"
"Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund.
"Ich habe aus der Schule geplaudert."
"Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?"
"Ich komme."
"In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen, Labude." Er hängte ab. Fischer hielt ihn am Ärmel
fest.
"Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen Sie ihn
eigentlich nie beim Vornamen?"
"Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen,
ihm einen zu geben."
"Er hat überhaupt keinen Vornamen?"
"Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich einen
beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht."
"Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt.
Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: "Sie merken
alles." Dann widmete er sich von neuem dem Kölner Dom, schrieb ein paar
Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf.
"Sie können sich mal ein kleines, hübsches Preisausschreiben
ausdenken", meinte der Direktor. "Ihr Prospekt für Detailhändler hat uns
ganz gut gefallen."
Fabian verbeugte sich leicht.
"Wir brauchen etwas Neues", fuhr der Direktor fort. "Ein
Preisausschreiben oder etwas Ähnliches. Es darf aber nichts kosten,
verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich geäußert, er müsse
den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte reduzieren. Was das für Sie
bedeuten würde, können Sie sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die
Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie
möglich, 'n Morgen."
Fabian ging.
Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen,
Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er einen Brief von seiner
Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er nicht. Das warme Wasser war kalt. Er
wusch sich nur, wechselte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den
Brief seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten Etage übte
jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat seine
Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge!
Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt, es
ist nichts Schlimmes. Es wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt bei
älteren Leuten öfter vor. Mach Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war
erst sehr nervös. Aber nun wird es schon wieder werden mit dem alten
Lehmann. Gestern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne
haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee,
so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase
sagte im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich.
Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den Karton zur Post.
Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht
kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie
hat eben ein Stück Gurgel gefressen, und nun stößt sie mich mit dem
Kopf und will mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie
vergangene Woche, Geld m den Brief steckst, reiße ich Dir die Ohren
ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn
wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu machen? Die Drucksachen, die
Du schicktest, haben mir gut gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein
Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht
seine Schuld. Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der
kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein fällt.
Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur ein Übergang. Der Vater hat
halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er geht
ganz krumm. Tante Martha brachte gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten.
Die Hühner legen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur
nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte.
Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach Hause kommen
könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind
und hat eigentlich keins. Die paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am
liebsten setzte ich mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher
war das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich mir die
Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack
nahmen und loszogen? Einmal kamen wir mit einem ganzen Pfennig zurück. Da
muß ich gleich lachen, während ich dran denke.
Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten wird es wohl
nicht werden. Gehst Du immer noch so spät schlafen? Grüß Labude. Und
er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater
läßt grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter."
Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hinunter.
Warum saß er hier in diesem fremden gottverlassenen Zimmer, bei der
Witwe Hohlfeld, die das Vermieten früher nicht nötig gehabt hatte? Warum
saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser
Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen
Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als
bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren
worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus
drehe sich nur, solange er ihm zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis,
anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten,
ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zusehen und
ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren
fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel
der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich
dachte, Sie wären noch nicht da." Sie kam näher. "Haben Sie gestern nacht
den Krach gehört, den Herr Tröger veranstaltet hat? Er hatte wieder
Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das
noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern
Zimmer wohnt?"
"Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen."
"Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!"
"Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem
gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur
Moral der Vermieterinnen stehen."
Die Wirtin wurde ungeduldig. "Aber er hatte mindestens zwei
Frauenzimmer bei sich!"
"Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird sein, Sie
teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn
er sich nicht danach richtet, lassen wir ihn von der Sittenpolizei
kastrieren."
"Man geht mit der Zeit", erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und
rückte noch näher. "Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an.
Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt."
Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr
unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn
wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen
Füßen, vor dem Zimmer des Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs
Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese
Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie
keine Kinder haben."
"Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum
Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand,
hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte,
als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet
hatte es fast nie. Er griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die
Grundlagen der Philosophie", so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre
waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in der
mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter
eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild
gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War das alles, was er
von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er,
mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore
spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann
durchgefallen und nach Amerika gegangen.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm
mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend
auf als wahr hingenommen hatte, und wie zweifelhaft alles sei, was ich
später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben
von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend
etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine
ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für
wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so
lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die
Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich
habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die
Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller
meiner Meinungen unternehmen."
Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen nach,
die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kaiserallee entlang fuhren, und
schloß vorübergehend die Augen. Dann blätterte er und überflog die
Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war Descartes alt gewesen, als er seine
Revolution ankündigte. Am Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein
bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl, mit immensem Schädel. "Von allen
Sorgen frei." Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm
Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog den Mantel an.
Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem Reisenden mit dem starken
Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte.
Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten davon.
Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die noble Verwandtschaft,
die Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und
hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
"Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian.
"Danke, gut", sagte Labude und trank den Kognak, der vor ihm stand.
"Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen."
"Und wie befindet sich das Fräulein Braut?"
"Davon später."
"Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?"
"Nein. Er hatte keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift
gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich ein
und trank. "Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du aus
Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes
rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf
dargestellt und noch nie verstanden haben."
"Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines
toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und
individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen
zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst
verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern
werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe
ich diesen Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine
Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!"
Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude
blickte vor sich hin. "Heute morgen war ich dabei, wie sie in der
Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Einen Sinologen. Er hat seit
einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek gestohlen und verkauft.
Er wurde blaß wie eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich
erst mal auf die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er
abtransportiert."
"Der Mann hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian. "Wozu lernt er erst
Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt? Es steht schlimm.
Jetzt räubern schon die Philologen."
"Trink aus und komm!" rief Labude.
Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche
Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
"Wir fahren zu Haupt", sagte Labude.
FÜNFTES KAPITEL
Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett
Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
Frau Moll wirft mit Gläsern
In Haupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punkt zehn Uhr
stiegen, im Gänsemarsch, zwei Dutzend Straßenmädchen von der Empore
herunter. Sie trugen bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe
mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht
des daniederliegenden Gewerbes nicht zu verachten. Die Mädchen tanzten
anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten.
Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an
der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter und Einzelhändler. Der
Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah.
Die dicksten und frechsten Frauenzimmer wurden bevorzugt. Die Weinnischen
waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lippenstift. Die
Orgie konnte beginnen. Labude und Fabian saßen an der Rampe. Sie
liebten dieses Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild
ihres Tischtelefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat surrte. Man
wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel und legte ihn unter
den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik,
das Gelächter und der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten
ihnen nichts anhaben.
Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von
der verfressenen Familie Fischer und vom Kölner Dom. Labude blickte den
Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen."
"Ich kann doch nichts."
"Du kannst vieles."
"Das ist dasselbe", meinte Fabian. "Ich kann vieles und will nichts.
Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an, ich
sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren
kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn."
"Doch, man verdient beispielsweise Geld."
"Ich bin kein Kapitalist." "Eben deshalb." Labude lachte ein
bißchen.
"Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein
pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld
anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich
Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist
überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen?
Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein
Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, ich will keinen
Mehrwert."
Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es
nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen."
"Was fang ich mit der Macht an?" fragte Fabian. "Ich weiß, du
suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu
sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind
sie nicht verwandt."
"Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden." "Wer tut das?
Dieser wendet sie für sich an, jener für seine Familie, der eine für seine
Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der fünfte
für solche, die über zwei Meter groß sind, der sechste, um eine
mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld
und Macht!" Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war
gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.
"Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte
dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein
Lebensziel einpflanzen!" Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand
auf den Arm des Freundes.
"Ich sehe zu. Ist das nichts?"
"Wem ist damit geholfen?"
"Wem ist zu helfen?" fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst,
träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital
kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen,
einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und
ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen!
Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein
Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig
und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre
diesbezügliche Eignung hin anzuschauen."
Labude hob sein Glas und rief: "Viel Vergnügen!" Er trank, setzte ab
und sagte: "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden
sich die Menschen anpassen."
Fabian trank und schwieg.
Labude fuhr erregt fort: "Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich
siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren
vollkommenen Ziel anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich
verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz,
das ist das Schlimme."
"Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen
begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie
wären ehrgeizig!"
Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war
dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die
andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme
Beine. "Schenkt uns 'ne Zigarette", sagte die Blonde. Fabian hielt die
Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen
Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit
verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das."
"Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke.
Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben,
alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand
war mit der Pfalz bei Caub bemalt. Fabian dachte an Blücher, Labude
bestellte Likör. Die Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten
sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde
den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die
Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und
kicherte blöde. "Oben sind Nischen", sagte sie, strich die blauen
Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher haben Sie so
rauhe Hände?" fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. "Nicht, was du
denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei.
"Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet", sagte die
Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste,
bis die Brustwarzen groß und fest wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?"
fragte sie.
"Ich bin überall rasiert", erläuterte die Magere und war nicht
abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam von dem
äußersten zurück.
"Man schläft nachher besser", sagte die Blondine zu Fabian und reckte
die fetten Beine.
Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als
hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An
der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der
Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte
eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
"Oben sind Nischen", sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf.
Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor
den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten drauflos.
Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich
mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und Finger und
lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt.
"Der erste Preis ist eine große Bonbonniere", erklärte die
kauende Paula, "und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim
Geschäftsführer wieder abliefern."
"Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick",
sagte die Blondine. "Dabei sind dicke Beine das beste, was es gibt. Ich war
einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt
Ansichtskarten."
"Quatsch!" knurrte Paula. "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen
Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias
Freund hat einen Buckel, und sie sagt, sie braucht das zum Leben. Da mach
was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram."
"Gelernt ist gelernt", behauptete die Dicke und angelte das letzte
Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur
ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte
der Siegerin eine große Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt,
verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück.
"Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?"
fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll.
Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und
erzählte: "Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich
abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte
ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er
glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse
fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging
ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!"
rief Labude.
"Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das
auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und
aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in
den Mund."
"Es ist furchtbar", sagte Labude zu Fabian, "es ist schrecklich, wie
viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen."
Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre,
und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse."
Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff
seine Hand und legte sie platt auf ihren satten Magen. Labude und Paula
tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme:
"Die Liebe ist ein Zeitvertreib.
Man nimmt dazu den Unterleib."
Die Dicke sagte: "Die nebenan ist 'ne Marke. Sie gehört gar nicht
hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter trägt sie was ganz
Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar
verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische, bezahlt für sie und
gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über
die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan.
Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große
gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen
Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. "Kerl!" rief
sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!" Aber
der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte
ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel
Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein
Sektglas und taumelte zur Brüstung.
Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren
Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob
das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem
Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben
erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf.
Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer nennt sich das! Wenn
man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich
schlage vor, die Bande einzusperren. Meine sehr verehrten Damen, wir
brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!" Sie schlug sich
emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im Saal wurde
gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu
weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen
liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns singen!" schrie sie schluchzend und
schluckend. "Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!" Sie breitete
beide Arme aus und brüllte:
"Auch der Mensch ist nur ein Tier,
Immer, und erst recht zu zweit,
Komm und spiel auf mir Klavier!
Komm und spieleee auf mir
Die Schule der Geläufigkeit.
Dazu bin ich ja..."
Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die
Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden
Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und wollte zu
ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und der
Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde
wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab
Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
In der Garderobe fragte er: "Sie kennt dich wirklich?" "Ja", sagte
Fabian, "sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede
Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe
ich noch in der Tasche. Hier sind sie."
Labude nahm die Schlüssel weg, rief: "Ich komme gleich wieder!" und
lief in Hut und Mantel zurück.
SECHSTES KAPITEL
Der Zweikampf am Märkischen Museum
Wann findet der nächste Krieg statt?
Ein Arzt versteht sich auf Diagnose
Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du
mit dieser Verrückten etwas gehabt?"
"Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus.
Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein,
ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen
ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich."
"Warum nahmst du die Schlüssel mit?"
"Weil die Haustür verschlossen war."
"Ein schauderhaftes Weib", sagte Labude. "Sie hing besoffen überm
Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche."
"Sie hat dir nicht gefallen?" fragte Fabian. "Sie ist doch sehr
eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt
so wunderbar unpassend."
"Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim
Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine
Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr
Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne
Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein
Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt
brannte der Himmel.
"Lieber Stephan", sagte Fabian leise, "es ist rührend, wie du dich um
mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du
mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen
Direktorposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich
lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht
gelingen." Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck,
trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des
Freundes. "Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig
zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe
Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund.
Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir
wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben
Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir
es taten oder unterließen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen
wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich
die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus
Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten
nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir
glaubten, es sei die Henkersmahlzeit."
Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian
ging hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. "Erinnerst du
dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich
bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind
einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch
über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und
die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit
sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß
gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin
tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich
saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht
Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was
aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir
wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir
nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein
Ende!"
"Zum Donnerwetter!" rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie
stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der
Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe
nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln."
"Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und
die Gerechten noch weniger."
"So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen
am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?"
In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei
und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel,
die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel
Spaß!" sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte,
obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.
Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem
Revolver und brüllte: "Warte nur, du Schwein!" Und dann schoß er
wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne
zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der
Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?"
"Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger
stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. "So ein Mistvieh", brüllte er.
"Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit.
"Quer durch die Wade", stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein
Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband.
"Drüben in der Kneipe ging's los", lamentierte der Verwundete. "Er
schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich
knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl
lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da
schoß er schon."
"Sind Sie nun wenigstens überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den
Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der
Schußwunde hantierte.
"Die Kugel ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar
kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf."
"Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest.
"Der hätte mir gerade noch gefehlt!" Der Verletzte versuchte
aufzustehen. "Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so
unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu
lassen."
Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem
Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die
Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang.
In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur
den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre.
Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam.
Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals.
Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser
verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu
haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der
Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer
verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit
furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor
nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein,
durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher
spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte
lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war
das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich
schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen
Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes!
Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten
sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie
zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern
und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun
fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der
irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu
Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im
Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's
schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?
Plötzlich rief jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den
Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und
preßte seine Hand aufs Gesäß.
"Was ist denn mit Ihnen los?"
"Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt."
Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen
Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit.
"Entschuldigen Sie", rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht gerade
höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die
Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag
wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht."
"Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über
die Straße.
"Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells
mit einem Steckschuß im Allerwertesten."
Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten
ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten
hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum n&